Halbschale oder Vollhelm? Warum ich den Fullface-Helm wähle

Lesezeit: 8 Minuten

Du bist mit deinen Kumpels auf ein paar entspannte Enduro-Laps verabredet. Halbschale auf, denn es wird ja pedaliert. Heiß ist es draußen noch dazu. Von Trail zu Trail werden die Geschwindigkeiten höher. Langsam hinterher fahren will ja keiner – oder? Plötzlich – BOOM! Der Geräuschkulisse nach zu urteilen war das hinter mir nicht nur das Fahrrad, das über das Steinfeld gescheppert ist – eher ein Baum, der gefällt wurde. Blick über die Schulter. Wer kennt es nicht: Dein Kumpel sitzt angeknockt auf dem Boden. Er sieht Sternchen. Ich einen fehlenden Zahn, eine krumme Nase und eine blutige Lippe. Du kennst das nicht? Sei froh, das habe ich schon oft genug gesehen.

Mir reicht es! Zumindest will ich den anderen den Anblick ersparen. Und um ehrlich zu sein, mir die Schmerzen.

Halbschale vs. Vollhelm

Im Keller liegt mein Downhill-Helm. Im Bikepark trage ich ihn immer brav. Doch wer damit mal eine ernstzunehmende Tour gefahren ist, weiß, wieso er für die Touren den Keller meist nicht verlässt.

Ein Halbschalenhelm bietet natürlich viele Vorteile: Er ist leichter, besser belüftet, gibt mir ein breites Sichtfeld und ich höre besser, was um mich herum passiert. Die letzten beiden Punkte können auf manchen Trails durchaus von Vorteil sein.

Halbe Schale, halbe Gefahr?

Aber sobald ich weiß, dass ich etwas schneller unterwegs bin oder härtere Trails fahre, ist mir der Schutz einfach nicht mehr ausreichend. Bei vielen Enduro-Rennen wie dem Enduro World Cup ist ein Fullface-Helm mit Kinnschutz ohnehin Pflicht. Gerade im Renneinsatz, wenn man versucht, eine neue Bestzeit zu fahren, finde ich das durchaus sinnvoll. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass man sich nur im Rennen pusht. Wie eingangs beschrieben kenne ich das nur zu gut von den „entspannten“ Laps mit den Kumpels. Und Profi hin oder her – jeder Fahrer crasht irgendwann einmal.

Bikepark bedeutet bei mir Downhill-Fullface-Helm.

Mit den modernen Enduro- oder auch Trail-Bikes erreichen wir Geschwindigkeiten, die nicht weit weg sind von denen, die wir aus den vergangenen Downhill-Tagen kennen. Und da hatten wir immer Fullface-Helme auf. Mit dem Wechsel von den Downhill- auf die kurzhubigeren Enduro-Bikes wurde nicht nur der Federweg, sondern auch die Schutzausrüstung reduziert. Natürlich sind die Bikes auch sicherer geworden … was auf der anderen Seite aber auch die Komfortzone verschieben kann. Dort angekommen, kann es passieren, dass sich die Geschwindigkeit ebenfalls erhöht. Im Umkehrschluss besteht das Risiko, sich härter einzuschädeln, was eine rein physikalische Sache ist. Am Ende muss aber jeder selbst entscheiden, wie viel Schutz er möchte.

Ich entschied mich für den Vollhelm – auch beim Pedalieren.

Doch was ist nun der richtige Vollhelm?

Es gibt zwei Arten von leichten Enduro-Vollhelmen: Zum einen die Variante mit einem festen Kinnbügel und zum anderen die Version mit einem abnehmbaren Kinnbügel.

Für viele könnte das Letztere nach der perfekten Lösung klingen: Halbschale für den Uphill, Vollhelm für den Downhill. Aber die aller wenigsten dieser Helme sind nach der ASTM-Norm zertifiziert – die einzige Mountainbike-spezifische Norm, die den Kinnschutz explizit testet. Mit einem Helm ohne diese Norm dürfte man zum Beispiel auch nicht bei dem Enduro World Cup starten. Der Sitz dieser Helme ist meist auch auf das Tragen mit Kinnbügel optimiert. Ohne den Bügel wackeln die Helme oftmals. Das ergibt für mich keinen Sinn – eigentlich wollte ich ja sicherer unterwegs sein. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich die Helme mit abgenommenem Kinnbügel auch nicht wirklich stylisch. Ein Punkt, der zu dem ganzen anderen Rest natürlich immer noch on top kommt. Was macht man eigentlich mit dem Kinnbügel, wenn man ohne Rucksack oder Hipbag fährt?

Der feste Kinnbügel ist beim Enduro meine Wahl.

Fahrt ihr eine gemütliche Passage wie zum Beispiel eine Forststraße hoch, hängt den Helm doch einfach an den Lenker oder Vorbau:

Optional nehmt ihr die Wangenpolster heraus – die lassen sich auf jeden Fall besser in der Hose verstauen als ein Kinnbügel:

Die Polster lassen sich herausklippen. Dadurch kommt mehr Luft in deinen Helm. Die Passform leidet natürlich etwas darunter. Schon einmal mit Lockout in den Trail gefahren? Die Wangenpolster sollten im Gegensatz zum Lockout wieder reingemacht werden.

Normen und Systeme

Das Wichtigste für mich bei der Wahl des Helms ist der Schutz.

Als ich anfing, mich genauer damit zu beschäftigen, fand ich heraus, dass es verschiedene Normen und Systeme gibt, die hier eine wichtige Rolle spielen. Für mich ist die ASTM F1952-Norm entscheidend, weil sie auch den Kinnschutz umfasst. Das MIPS-System, das das Gehirnerschütterungsrisiko minimieren soll, finde ich durchaus auch sinnvoll. Zusätzlich optimieren die Hersteller ständig ihre eigenen Technologien, um dir den besten Schutz zu bieten.

Die gängigen Normen habe ich am Ende des Artikels zusammengefasst.

Der gelbe „Mips“-Punkt ist dir bestimmt schon auf den Helmen aufgefallen.

Wann sollte ich meinen Helm austauschen?

Das passt zwar nicht ganz zum Thema. Allerdings fand ich das im Zuge meiner Recherche heraus und möchte es gerne mit euch teilen, da ich es sehr wissenswert finde:

  • Bei einem Sturz mit starkem Aufprall sollte der Helm sofort ersetzt werden. Selbst wenn er keine sichtbaren Schäden hat, kann der innere Schaumstoff (EPS oder ähnliches) komprimiert worden sein und verliert dadurch seine stoßdämpfende Wirkung.

  • Viele Hersteller empfehlen ihn alle 3–5 Jahre zu ersetzen, ohne Sturz. Im Enduro- und Downhill-Bereich schrauben einige die Grenze auf 2–3 Jahre herunter, vor allem bei intensiver Nutzung. Intensive Nutzung heißt tägliches Training oder regelmäßige Rennen. Materialien wie EPS-Schaum und Kleber altern durch UV-Strahlung, Schweiß, Sonnencreme, Mückenspray und Temperaturschwankungen – dadurch verliert der Helm mit der Zeit an Schutzleistung.

  • Außerdem solltest du deinen Helm nicht mit aggressiven Chemikalien reinigen. Benutze warmes Wasser und eine milde Seife oder Spülmittel.

Welcher ist jetzt „DER“ beste Helm?

Trotz aller Normen ist nicht immer klar, welcher der bessere Helm ist. Selbst bei Helmen mit gleichen Normen gibt es immer noch Unterschiede. Wer es noch genauer wissen möchte, kann sich die Helm-Tests von Virgina Tech anschauen.

Die Testmethodik von Virginia Tech gilt als fortschrittlicher und umfassender im Vergleich zu vielen herkömmlichen Normen. Sie bezieht realistischere Szenarien und zusätzliche Schutzaspekte mit ein. Wir Rider müssen uns dadurch nicht auf die gesetzlichen Mindeststandards verlassen, sondern bekommen noch zusätzliche Informationen zum Schutzpotenzial bei einem Crash.

Auf folgende Punkte wird bei Virginia Tech zusätzlich geprüft:

  • Vielfältige Aufprallwinkel: Während Standards wie EN 1078 nur vertikale oder begrenzte Aufprallszenarien testen, berücksichtigt Virginia Tech Schläge aus verschiedenen Winkeln, die bei echten Unfällen üblich sind.

  • Rotationsbeschleunigung: Neben der linearen Beschleunigung (direkter Aufprall) messen sie auch rotatorische Beschleunigungen. Diese sind ein Hauptfaktor für Gehirnverletzungen wie Gehirnerschütterungen, die bei Standardtests oft vernachlässigt werden.

  • Rotationsschutztechnologien: Die Methodik von Virginia Tech bewertet explizit Helme mit Rotationsschutztechnologien wie MIPS. Standards wie EN 1078 und ASTM F1952 berücksichtigen Rotationskräfte nicht ausdrücklich, weshalb Helme mit MIPS dort keinen zusätzlichen Vorteil erhalten.

  • Niedrigere, mittlere und hohe Aufprallgeschwindigkeiten: Die Standard-Normen testen oft nur extreme Szenarien. Viele Unfälle passieren bei moderaten Geschwindigkeiten. Daher berücksichtigt Virginia Tech auch diese häufigeren Unfalltypen.

  • Transparenz und Unabhängigkeit: Die Virginia Tech-Tests sind unabhängig von Helmherstellern und transparent in ihrer Methodik. Hersteller können zwar Helme freiwillig einreichen, die Bewertung erfolgt jedoch nach festen Kriterien, ohne Einflussnahme der Hersteller.

Verschiedene Aufprallstellen-Tests von 1–6 (links nach rechts) erklärt. Positionen 1, 2 und 6 stehen für einen Aufprall, bei dem der Kopf dem Körper vorausgeht. Die Stellen 3 und 5 stehen für einen rutschenden Aufprall.

Position 4 stellt einen Aufprall durch Überschlagen über den Lenker dar.

Was gilt es noch zu beachten?

Ganz wichtig ist außerdem die Passform und der Komfort. Denn nur ein Helm, der perfekt sitzt, bietet optimalen Schutz. Das kann sehr individuell sein – probieren geht hier über Studieren!

Gleichzeitig sollte der Helm gut belüftet und nicht zu schwer sein – schließlich will ich ihn auch beim Uphill tragen, ohne dass er mir zur Last wird.

Bikepark vs. Enduro

Für meine Enduro-Touren ist ein leichter, gut belüfteter Vollhelm meine erste Wahl. Er sitzt gut auf dem Kopf und gibt mir das Sicherheitsgefühl, das ich brauche, um richtig Gas zu geben.

Wenn ich den ganzen Tag im Bikepark bin, greife ich dann doch zu einem massiveren Downhill-Helm. Der Schutz, den diese Helme bieten, ist unschlagbar. Fährt man den ganzen Tag die gleichen Bikepark-Strecken, erhöht sich die Geschwindigkeit ziemlich schnell.

Fazit

Für mich ist die Entscheidung klar: Vollhelm statt Halbschale.

Die modernen, leichten Fullface-Helme bieten eine ideale Mischung aus Schutz und Komfort. Natürlich ist eine Halbschale günstiger als ein Vollhelm – aber es geht hier um meine Birne. Die Sicherheit steht bei mir an erster Stelle – egal, ob auf den Hometrails oder im Bikepark.

Normen/Systeme ERKLÄRT

  • Die wichtigste Norm für Fahrradhelme in Europa. Sie prüft Stoßdämpfung, Abstreifsicherheit (wie gut der Helm auf dem Kopf bleibt) und Kinnriemensicherheit.

  • Entspricht der Norm der Consumer Product Safety Commission in den USA. Sie gilt als etwas strenger als EN 1078.

  • Eine ähnliche Norm wie EN 1078, jedoch mit zusätzlichen Tests für hohe Temperaturen und UV-Strahlung.

  • Zeigt, dass der Helm den geltenden EU-Vorschriften entspricht und für den Verkauf in Europa zugelassen ist. Ein Helm mit einer CE-Kennzeichnung wurde auf die Einhaltung der EN 1078-Norm geprüft, wenn es sich um einen Fahrradhelm handelt. Hersteller sind verpflichtet, diese Tests nachzuweisen.

  • Diese Norm gilt speziell für Enduro/Downhill-Mountainbike-Helme. Sie umfasst strengere Tests, insbesondere für höhere Geschwindigkeiten und starke Stöße. Sie ist die einzige Mountainbike-spezifische Norm, die den Kinnschutz explizit testet. Ein Helm mit ASTM F1952-Zertifizierung bietet mehr Schutz als ein Standard-Helm nach EN 1078.

  • Multi-directional Impact Protection System

    Keine Norm/Zertifizierung, sondern ein Zusatzsystem. Es ist eine Technologie, die speziell entwickelt wurde, um den Kopf bei schrägen Aufprallen besser zu schützen. Durch die Integration einer reibungsarmen Schicht in den Helm wird die Rotationsenergie abgeleitet und die Kräfte werden reduziert, die während eines Unfalls auf das Gehirn wirken können. Dadurch wird das Risiko einer schweren Gehirnverletzung verringert.

    Es wird in vielen modernen Helmen integriert.

  • EPS besteht aus kleinen, geschäumten Polystyrol-Kügelchen, die zu einer festen Struktur verbunden werden. Bei einem Aufprall werden die winzigen Luftblasen im EPS-Schaum zusammengedrückt. Durch die Kompression und kontrollierte Zerstörung wird die Aufprallenergie absorbiert und der Kopf geschützt. Nachteil: Sobald der EPS-Schaum beschädigt ist, verliert er seine Schutzwirkung und muss ersetzt werden.

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Autor – Yannick Noll

Größe: 178 cm

Gewicht: 75 kg

Fahrstil: Als ehemaliger Racer darf es gerne schnell und flüssig sein. Größere Sprünge und steile Rampen dürfen aber auch nicht fehlen. Das Bike ist etwas straffer und schneller abgestimmt, dass es entsprechend schnell auf Input vom Fahrer reagiert. 

Motivation: Es soll Spaß machen. Ein Bike sollte nicht langweilig, alles platt bügeln. Der Charakter darf etwas lebendiger sein. Bei der Abstimmung, wie auch beim Fahrstil. Das Produkt sollte haltbar sein und auch auf längeren Biketrips sorgenfrei funktionieren.


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