VORSPRUNG TELUM Langzeittest – Dem DAVID SEINE STEINSCHLEUDER
Lesezeit: 15 – 20 Minuten
Regelmäßig komme ich in meiner Wahlheimatstadt Regensburg am Goliathhaus vorbei. Darauf prangt ein monumentales Fresko, ursprünglich wohl 1573 von einem reichen Kaufmann in Auftrag gegeben. Etliche Restaurationen soll es in den vergangenen Jahrhunderten bereits erfahren haben, was der eindrücklichen Wirkung aber keineswegs geschadet hat.
Da schwingt ein schmächtiger Jüngling seine Steinschleuder, ihm gegenüber ein gut dreimal so großer Soldat mit spitzem Pilum und in voller Rüstung.
Wir Menschen sympathisieren ja ganz gerne mit dem Underdog, mit dem David der dem Goliath die Stirn bietet. Davids Waffe der Wahl um den übermächtigen Goliath zu bezwingen ist bekanntlich die Steinschleuder, auf Latein „fundae“. Die „fundae“ wiederum ist eine Waffe, und „die Waffe“ wiederum heißt in Latein „Telum“.
Es mag jetzt purer Zufall sein, dass Vorsprung den hauseigenen Stahlfederdämpfer ausgerechnet Telum nennt, aber irgendwie muss man diesem Text ja eine Einleitung verpassen. Drum ist der Telum jetzt mal „Dem David seine Steinschleuder“. Spoiler: Diese Metapher werde ich weiterreiten…
Wer, wie, was … Vorsprung?
Die Marke Vorsprung an sich hat aber schon ein bisschen was vom schleudernden David: Ein kleines Team an Mountainbike-Enthusiasten, allen voran der Kanadier Steve Mathews, schicken sich an den Großen im Suspension-Business, den Goliaths, die Schneid abzukaufen.
Corset, Luftkappe, Secus, Smashpot und das Tractive Tuning System – Jedes bisherige Vorsprung Produkt stößt kompetent in eine existente Lücke im Grossisten-, pardon, Goliath-Portfolio und jedes findet seine treuen Fans auf der ganzen Welt. Der Telum nun wiederum markiert für die Kanadier die Abkehr vom reinen Tuningprodukt und den Einstieg in den exklusiven Club der Hersteller. Doch Vorsprung wäre nicht Vorsprung, hätte man nicht auch hier die Lücke in den Angeboten der Goliaths erkannt.
Als Bauart der Wahl wurde das Twin-Tube-Design auserkoren, welches durch Öhlins, in Zusammenarbeit mit Cane Creek, im Mountainbike-Segment anno 2005 pioniert wurde. Mehrere Marken versuchten und versuchen sich nach wie vor an dieser doch komplexen Bauart. Manche mit Erfolg, manche (zum Leidwesen der Endkunden) mit weniger.
Öhlins, die schwedischen Twin-Tube-Spezialisten, bleiben diesem Konzept in allen abfahrtslastigen Produkten treu, Gabel wie Dämpfer. So schlecht kann diese Technologie also nicht sein, natürlich, sofern man sie in allen ihren komplexen Details beherrscht.
Kleine Hintergrundinfo: Steve hat sein Studium teilweise in Deutschland absolviert. Es soll ja eine Automarke geben, die den technologischen Vorsprung für sich propagiert. Soviel zur möglichen Herkunft des Namens, der für eine kanadische Marke doch recht unorthodox zu sein scheint.
Der Telum ist indes aber keine schnöde Kopie der schwedischen High-End-Produkte, ich würde ihn viel mehr als intelligente, konsequente Weiterentwicklung bezeichnen. Steve Mathews gibt in seinen Telum-Erklärbär-Videos auch ganz klar Kudos in Richtung Stockholm, ohne dabei zu vergessen, die Vorzüge seines Designs in das Spotlight zu rücken – Mit Recht!
Wer sich mit den Grundlagen des Telum-Twin-Tube-Design vertraut machen möchte, kann sich das in Videoform und dem Vorsprung Gründer Steve entspannt erklären lassen:
Die Besonderheiten oder „Warum diese Steinschleuder besser schleudert“
Was den Telum an sich zuerst einmal technisch hervorhebt, sind zwei ganz klare Unique Selling Points: ein hydraulischer Endanschlag und die sagenumwobene „Rapid Revalve“-Technologie in Kombination mit dem onlinebasierten „Tuning Hub“.
USP #1: Hydraulic Bottom Out (HBO)
Die Implementierung eines hydraulischen Endanschlags in einen Twin-Tube ist eine relativ nachvollziehbare, logische Progression (pun intendet).
Im Gesamten betrachtet ist diese Markt-Einführung sogar schon längst überfällig, da das Twin-Tube-Design weit weniger positionsabhängige Druckstufenzunahme bietet als dies bei Monotube-Bauweise der Fall ist. Fähige Designer behalfen sich bisher gerne mit, teils abenteuerlich-ausgefallenen, Endanschlagselastomeren. Wer aber schon mal die Chance hatte, einen hydraulischen Endanschlag direkt gegen einen Elastomerendanschlag zu fahren, wird zu berichten wissen, dass Hydraulik stets das bessere Gefühl erzeugt. Dazu muss man wissen, dass eine hydraulische Gegenkraft für den menschlichen Körper einfacher zu übersetzen ist. Sie gibt mehr Zeit zu reagieren, sprich, es ist einfacher, muskulären Gegendruck aufbauen zu können. Elastomerendanschläge wirken dagegen teilweise digital oder mitunter sogar überraschend.
Zudem lässt sich Hydraulik einstellen, was ein weiterer klarer Vorteil ist. Ein Endanschlagselastomer hingegen verändert seine Eigenschaften höchstens durch Temperatureinflüsse beziehungsweise kann seine Funktion im Laufe seines Lebens sogar verschleißen. Viele Wartungskits für Dämpfer kommen automatisch mit neuem Endanschlagselastomer, was ein klares Indiz dafür ist, dass Verschleiß hier ein Problem darstellt.
Warum das Thema Endanschlag so wichtig ist?
Fragt zwei meiner Hinterräder, die sind nach den zahlreichen Testfahrten ganz schön beleidigt. Aber dazu später mehr …
Steve von Vorsprung zur Funktion des HBO:
USP #2.1: Rapid Revalve Technologie
Endanschlag hin oder her: Die Rapid Revalve Technologie lässt mich als bekennenden „Shim Cowboy“ um die Zukunft meiner Zunft fürchten.
Statt wie sonst des Dämpfers Eingeweide in akribischer, stundenlanger Feinarbeit zu zerpflücken, zu analysieren und – hoffentlich – wieder besser zu assemblieren, erfolgt hier das Custom-Tuning mittels eines vorgegebenen Prozesses der für gewöhnlich kaum länger als 10 Minuten dauert.
Was ansonsten gerne mal in die Stunden geht, erfolgt hier in wenigen Minuten. Damn!
In Grundzügen findet man den technischen Ansatz den Vorsprung mit dem Rapid Revalve verfolgt bereits an mehreren Suspensionprodukten: Eine Veränderung des zentralen Klemmdurchmessers des Shimstacks erlaubt die Erhöhung oder Verringerung der Kraft die nötig ist, um das Shimpacket vom Kolben zu drücken.
Das klingt jetzt natürlich sehr kryptisch, darum ein Versuch zur Erklärung:
Ein Goliath und ein David sitzen auf einer typischen Spielplatzwippe. Der Drehpunkt der Wippe ist natürlich in der Mitte platziert. Setzt sich Goliath auf die Wippe schnellt David in die Höhe und bleibt dort, logisch. Einfaches Hebelgesetz. Nun wollen aber Beide ihren Spaß haben und irgendwie muss man die Masse der Menschen ins Gleichgewicht bringen. Jetzt könnte Goliath natürlich weit nach vorne rutschen und so das Hebelverhältnis zu Gunsten der geringeren Masse Davids verändern. In unserem Beispiel hier ist dies, aus unerfindlichen Gründen, aber einfach nicht möglich. Welche Option haben wir dann noch? Richtig, den Drehpunkt der Wippe verändern, also in Richtung der größeren Masse bringen, um ein Gleichgewicht herstellen zu können. So ähnlich funktioniert Rapid Revalve. Man verlängert bzw. verkürzt den Hebel der dem Shim zur Verfügung steht um sich vom Dämpfungskolben zu lösen.
Jetzt kommt aber die Krux an dieser Geschichte, die Vorsprung wirklich innovativ gelöst hat: Systeme wie diese dürfen keinerlei „Float“, im Deutschen wohl am besten als „Leerweg“ übersetzt, haben, um kompetent zu funktionieren. Shims bewegen sich oft nur wenige Millimeterbruchteile vom Kolben weg, wenn sie dem Öl aus dem Weg gehen. Eine winzige Toleranzvariation hat das Potential die Funktion komplett außer Gefecht zu setzen. Öhlins als auch Fox bedienen sich aktuell ähnlicher Technologien um die Dämpfungscharakteristik verändern zu können.
Konkretes Beispiel bezüglich der Komplexität gefällig?
Fox hat für die nötigen Justagearbeiten am sogenannten Variable Valve Control (VVC) ein hauseigenes Tool entworfen, das für schnöde 700 Euro den Besitzer wechselt. Man sieht schon, diese Idee der Verstellung hat ihre Besonderheiten. Wohlgemerkt: Dieses Tool ist wirklich nur ein Kontroll-/Einstell-Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger.
Der Geniestreich von Vorsprung in diesem Zusammenhang ist, dass die Klemmung der Shims nur im Zustand des Tuningprozesses marginal gelockert wird und sobald der passende Tune eingestellt ist, das Shimpaket wieder solide auf dem Kolben sitzt.
Steve von Vorsprung erklärt dies so:
USP #2.2: Vorsprung Tuning Hub – Der Algorithmus der mit muss
Bleiben wir mal bei unserer Metapher. Was unterscheidet David und Goliath noch, neben dem exorbitanten Kräfte- und Größenunterschied?
Goliath war für seine kriegerischen Erfolge bereits berühmt, er war etabliert. David hingegen war unbekannt und er hatte nur ein Ziel: Goliath umzuhauen. Für Goliath war David einer von Vielen, für David war Goliath „der Endgegner“. David hatte also insofern ein klares, spezifisches Ziel.
Für gewöhnlich, im “Big Business”, zeichnet ein Produktmanager einer Bikefirma für das finale Tuning eines Federelements in einem Mountainbike verantwortlich. Ein Suspension-Koloss lässt das Produkt dann unter seinen Vorgaben in seiner Fabrik zusammenklöppeln, verschifft dann eine Palette oder drei irgendwohin und kein Jahr später kommt das Bike dann bei der Kundschaft an.
Und hier schließt sich der metaphorische Kreis zum Telum, denn Vorsprung hat ebenso ein ganz klares Ziel: Einen spezifischen Endkunden, dessen Name auch David sein könnte. Vorsprung hat die Möglichkeit direkt und individuell mit dem geneigten Endverbraucher in Kontakt zu treten. Mehr noch: Vorsprung möchte diesen direkten Kontakt!
Das Vehikel für diesen Direktkontakt nennt sich „Vorsprung Tuning Hub“ und sofern man die Entscheidung fällt einen Telum erstehen zu wollen, ist es obligatorisch, dass man auf dieser Website einen Fragenkatalog beantwortet. Diese Antworten werden dann wiederum in einen ausgeklügelten und natürlich geheimen Algorithmus eingepflegt. Das Ergebnis ist ein individueller Custom Tune der nicht nur die Kinematik des Hinterbausystems des Kundenbikes in sich trägt, sondern auch essentielle Infos wie Gewicht, Fahrkönnen, Trainingszustand, ja sogar das Alter und ob man nach dem Ride gerne lecker Bierchen trinkt.
Ja, es wird bei Vorsprung auch mit etwas Humor gearbeitet … falls das noch nicht angekommen ist. Tipp: Videos in voller Länge ansehen, dann versteht man die Sidenote „mit Humor“.
Jedenfalls ist diese Kombination aus Produkt und Kundenservice genau der Grund warum es mir als Shim Cowboy den kalten Angstschweiß auf die Stirn treibt.
Nicht nur, dass mir die Selektion des passenden Shimsstacks genommen wird. Auch das Analysieren der Hinterbaukinematik wird mir genommen sowie das Ausrechnen der passenden Federhärte zum Fahrergewicht. Alle Infos die ich brauche um ein personifiziertes, individuelles Setup zu kreieren, spuckt mir der Vorsprung Tuning Hub, natürlich inklusive der obligatorischen Dyno-Kurven, in einem digitalen PDF vor die, nun altmodisch anmutenden, Cowboystiefel.
Und es kommt noch schlimmer: Die identische Info geht per Email auch raus an die geneigte Kundschaft, mit allen Details! Mir schwindelts.
Aber jetzt mal ganz ohne Augenzwinkern: Was Vorsprung hier mit dem Telum an den Start gebracht hat, ist ein „Industry First“-Produkt. Es demokratisiert Custom Tuning. Jeder Kunde und jede Kundin, jeder Fahrradshop, kann zum Tuner werden. Denn es gibt noch eine Novität: Bestreitet man das technische Training zum Telum, welches im Tuning Hub für alle Kunden frei zugänglich ist, kann man mittels eines kostengünstigen Werkzeugs die gesamte Bandbreite der Dämpfungsjustage easy in der eigenen Werkstatt nutzen, beziehungsweise einstellen.
Weitere Besonderheiten
Sphärische Lager in den Dämpferaugen
Ein Mountainbike ist nicht nur ein System aus Parts, es ist auch ein System, das eine Vielzahl an Fertigungstoleranzen in sich vereint. Gerade Federelemente leiden oft unter dieser Kette aus Fertigungstoleranzen. Ebenso verheerend für die Lebensdauer können simple Designfehler sein, die das Federbein dauerhaft seitlich belasten und so zum frühzeitigen Exodus führen. ***Hust … Yokes … Hust***
Apropos: Vorsprung bezieht in Sachen Hinterbaudesign und Federbeinintegrierung ganz klar Stellung – Shock-Frame Interface Design: Best Practices for Frame Manufacturers
Ich würde vermuten, es wäre für die gesamte Fahrradindustrie gut, diese Leitlinien zu beachten. Letztlich zahlt der Kunde die Rechnung für ein fehlerhaftes Hinterbaudesign. Hier kann Goliath vom David wieder mal etwas lernen, bzw. wäre es wirklich von Vorteil, wenn die Platzhirsche ähnlich ausführliche Dokumente zu ihren spezifischen Produkten auflegen.
Aber zurück zum Thema: Sphärische Lager, so wie sie Vorsprung beim Telum verwendet, ermöglichen eine multidirektionale Bewegung des Dämpferauges. Standardhardware lässt (fast) nur eine reine Rotationsbewegung zu, was bei dynamischen Seitenkräften das Federbein auf Dauer beschädigt. Warum man dies nicht in allen Federelementen findet? „It’s all about the money, right?“
Manche Befestigungs- oder Klemmmechanismen ***Hust … Yokes … Hust*** für Dämpferaugen sind indes nicht mit dieser Technik kompatibel,
und für genau diese Ausnahmen hat Vorsprung auch „ganz normale“ Dämpferaugen im Programm:
Links die üblichen Dämpferaugen. Rechts mit sphärischem Lager.
Sprindex Feder
Der Telum kommt serienmäßig mit dem bereits bekannten Sprindex-System. Dieses Spiralfeder-System ermöglicht eine werkzeugfreie Einstellung der Federrate. Es kann neben der exakten Anpassung der Federhärte an das Fahrergewicht auch zur Feinjustierung an das vorhandene Terrain und die gewünschte Gewichtsverteilung auf dem Bike dienen. Mehr Informationen zu Sprindex sind hier zu finden.
Einstellmöglichkeiten
• Low-Speed-Compression (LSC): 18 Klicks
• High-Speed-Compression (HSC): 12 Klicks
• Rebound: 18 Klicks
• Hydraulischer Bottom-Out (HBO): 18 Klicks
Notiz: wirkt auf den letzten 15 mm des Dämpferhubs bzw. 12,5 mm bei Hubreduzierung um 2,5 mm
• Lockout
• Erhältlich in allen metrischen Standardhüben von 47,5 mm bis 75 mm
• Erhältlich mit Trunnion und Standard-Eyelet
Wartungsempfehlung
Die Mindestwartungsempfehlung seitens Vorsprung ist ein Service pro Jahr. Allerdings erweitern die Kanadier dies auch auf „Arbeitshöhenmeter“ oder umgangssprachlich Tiefenmeter. Nach 150.000 Tiefenmeter wird ein Service klar empfohlen. Das Rechenbeispiel hinter dieser Empfehlung findet sich im Telum Manual, für die ganz Interessierten.
Wen das Gewicht noch interessiert – 513 g (205×65mm, ohne Feder).
Vorsprung Telum Dauertest
Transparenzhinweis:
Ich habe das Glück, bei MRC-Trading arbeiten zu dürfen, einem der globalen Distributionspartner von Vorsprung Suspension. Wer mich persönlich kennt, weiß, dass mir Aufrichtigkeit sehr wichtig ist. Ich erhebe den Anspruch, dass dieser Ridetest so objektiv gestaltet ist, wie es mir möglich ist, und nicht von meiner Beschäftigung bei MRC-Trading beeinflusst wird.
TESTRIGS
Seit über 6 Monaten bin ich auf zwei Vorsprung Telum unterwegs. Ein Vorserienmodell werkelt kompetent in meinem geliebten Raaw Jibb V1 (MTB) und ein Zweiter, selbst finanzierter, wird in jedes Bike reingesteckt, das einen 205x65 Trunnion-Dämpfer aufzunehmen vermag und an das ich meine knorrigen Finger legen darf. Dazu zählen ein Lapierre GLP3 (EMTB), ein Rotwild RX750 (EMTB) und ein Kavenz VHP16 (MTB). Auch wenn alle diese Bikes durchaus eine vernünftige und so gar nicht verkorkste Hinterbaukinematik haben: Jedes hat so seine Tweaks und ein jedes sollte, der bestmöglichen Performance wegen, einen angepassten Dämpfertune bekommen, neben der obligatorischen Anpassung der Federrate.
Das Raab Jibb V1 mit einem 185×55 Trunnion-Telum-Dämpfer.
Alle Testrides wurden nicht mit der serienmäßigen Sprindex Feder absolviert. Zur direkten Vergleichbarkeit der einzelnen Federbeinmodelle wurden immer Stahlfedern vom deutschen Hersteller H&R genutzt. Diese Coils lassen sich mittels eines POM-Spacer-Systems an alle gängigen Stahlfederdämpfer verbauen. Jeder Shock in einem spezifischen Testbike wurde mit der identischen Federrate gefahren, um rein die Unterschiede in der Dämpfungsperformance rauskitzeln zu können.
TESTRIDES
Neben den gewöhnlichen Ausfahrten direkt von der Haustüre weg und einer fantastischen Woche in Finale Ligure haben die Telums zwei strukturierte Testsessions absolvieren müssen. Tatorte waren der Bikepark Geisskopf (MTB) und die DAV Jura Trails bei Neumarkt in der Oberpfalz (EMTB). Dankbare Anerkennung geht raus an den Deutschen Alpenverein, Abteilung Neumarkt – Eure Trails machen Spaß und sind ein wahres Highlight! CHEERS!
Beide Sessions dauerten jeweils einen ganzen Tag, um die Chance zu haben, so viele Back-to-Back-Runs zu generieren, wie es das Tageslicht erlaubt. Im Bikepark galt das Hauptaugenmerk der Freeridestrecke, jetzt bekannt als Mullet-Trail, wobei auch alle weiteren Strecken im Park zum Zuge kamen. Wichtig war nicht nur die Sondierung der eigentlichen Funktion, sondern auch das Zusammenspiel mit körperlicher Ermüdung. Meist bringen die Runs 3 und 4 die besten Zeiten hervor, weil man sich eingegroovt hat und voll im Saft steht.
Irgendwann kommt aber dann das Unausweichliche, und der körperliche wie auch geistige Verfall zeigt seine grässliche Fratze.
Simpler Übermut stellt sich gern mal ein, oder ein Fauxpas entwickelt sich zu einer so ausgewachsenen Fehlerkette, dass es einem vor Angst den Culus auf Zehntelmillimetergröße zusammenzieht. Und genau in diesen „WTF-Momenten“ zeigt sich, ob ein Fahrwerk unterstützend wirkt oder der unvermeidliche Newtonsche-Eject-Button gedrückt wird.
DIE EINDRÜCKLICHSTEN ERLEBNISSE IM TESTZEITRAUM
TESTSESSION #1: BIKEPARK GEISSKOPF – RIP BACKWHEEL MY LOVE
Das RAAW Jibb wird bisweilen als Mini-Madonna betitelt und ich finde diese Umschreibung treffend. Es ist weit stabiler als man es dem durchschnittlichen 135-mm-Fullsuspension zutraut, zum Shock testen ist es ebenso ideal.
Kurze Hübe, wie hier 55 mm, zeigen schnell auf, wo die Reise hingeht.
Direkter Kontrahent zum Telum war ein durchgepimpter Fox DHX, mit allem aufgespritzt, was mein Wissen (damals) so hergab. Ein Träumchen von einem Federbein. Springrate: 475 lbs für beide.
Nach der Eingroovephase, je zwei Runs mit jedem Shock, war die Baseline für den Tag gesetzt. Der Telum kommt ja grundsätzlich mit einem von Vorsprung vor-ausgetüftelten Setup. Folgende Einstellungen weichen von diesem prognostizierten Grundsetup nun ab: 1 Klick weiter auf in der HSC, und 2 Klicks auf beim HBO. Ich hatte das Gefühl, der hydraulische Endanschlag würde etwas zu früh einsetzen. Man beachte: Bei 55 mm Hub beginnt der Wirkungsbereich des HBO bei 73 % des Dämpferhubs. Bei 65 mm, was mit Sicherheit der meistverkaufte Hubbereich ist, startet der bei 77 %. Zudem hat die Druckstufendämpfung mehr „Zeit“, die Kolbengeschwindigkeit zu bremsen.
Soll heißen: Es ist nicht immer alles direkt übertragbar, also selbst testen, macht klug.
So sieht das beim Testen dann aus.
Nach 2 Runs mit dem Telum und gehörigem Angasen auf der Freeride ging es dann zurück auf trusty-DHX. Der DHX war on par mit dem Telum in Sachen Sensibilität und hydraulischer Unterstützung, allerdings vermisste ich die „Wheelcontrol“ des Kanadiers. Als Wheelcontrol bezeichne ich, ob man klar erfühlen kann, wo das Hinterrad gerade ist, gedacht in Hub, als auch auf dem Trail. Hinten haben wir ja keine Augen, also heißt es erfühlen, reinhorchen.
Da hat der Telum schon mal klar die Nase vorn.
Im DHX-Run Nummer zwei sollte dann der Durchschlagtest erfolgen, den der Telum zuvor mit Bravour bestanden hatte. Hydraulik ist King! So smooth, so controlled.
Also zackig rein in die Bottom-Out-Kuhle, für Kenner die Senke rechts unterhalb des Boner-Sprungs im oberen Teil der Freeride, und BÄÄM! Es gibt Geräusche, die hört man und weiß: Das wird teuer! Ein rotierendes Zischen lässt mich erahnen, was kurz später optisch bestätigt wird: Der geschätzte DHR2 hat das Zeitliche gesegnet. RIP, Buddy. Auch mit dem Hinterrad ist nicht mehr ans Jibben zu denken, es hat sich in die Form eines ungesunden Kartoffelsnacks verzogen. Nach erfolgreichem Laufradtausch erfolgt der Beschluss: Back-To-Back ist durch.
Eins zu Null fürn Telum. Und klar ist auch: HBO safes backwheels!
Die restlichen Runs absolviert der Telum frei von jeder Konkurrenz und er brilliert in allen Lebenslagen. Interessanterweise musste ich auch nach exorbitanten körperlichen Verbrauchserscheinungen keinen Klicker mehr drehen. Auch ohne muskulären Gegenhalt hält er super die Linie. Freilich steht er dann höher im Federweg, aber das tut dem Hinterradgrip keinen Abriss. Egal, ob mit angespannter Beinmuskulatur oder kartoffelsackähnlichem Herum-Passagieren – er wirkt unterstützend und kontrolliert. Ein klares Indiz dafür, dass die Dämpfungskurve sehr linear verläuft, sobald das Low-Speed-Knee überwunden ist.
Der Shock gibt penibles Feedback ohne jede Harshness, in Off-Chamber-Sektionen generiert er Grip, wie es eben nur Coilshocks vermögen. Aber das Herausragendste ist und bleibt der HBO. Am liebsten nie wieder ohne. So smooth, so controlled!
TESTSESSION #2: EMTB-TESTSESSION AUF DEN JURA TRAILS IN NEUMARKT
Diesmal kein Back-To-Back, sondern ein Bike-To-Bike. So ein Ansinnen würde wenig Sinn machen, würden sich die beiden Bikes nicht extrem ähnlich sein. Aber zum Glück sind sie das:
EMTB1 ist ein Lapierre GLP3 in L mit knapp 25 kg und 170 mm Federweg bei 65 mm Dämpferhub. Der Sag steht bei einem Übersetzungsverhältnis von rund 2.8 an, mit einer Gesamtprogression von rund 23%. Öhlins 38m2 mit Stahlfeder und 170 mm vorne, Öhlins TTX22m2 205x65 hinten / Springrate: 502lbs.
EMBT2 ist ein Rotwild RX750 in L mit ebenso 25kg und 165mm Federweg bei 65mm Dämpferhub. Der Sag steht bei einem Übersetzungsverhältnis von rund 2.7 an, mit einer Gesamtprogression von rund 26%. Gepimpte Fox 38 mit Vorsprung Smashpot Stahlfederkit und 160mm vorne, Vorsprung Telum 205x65 hinten / Springrate: 475lbs.
Das Kurzfazit zum Lapierre GLP3, um das es hier ja nicht gehen soll: Krass gut! Und nein, das Bike ist nicht hässlich…vielleicht ein bisschen…gewöhnungsbedürftig …okay….?
Das Rotwild mit seinen Vorsprung-Produkten liefert ebenso maximal ab, jedoch in einer anderen Art und Weise. Zuerst fällt auf, dass die Front meist höher im Federweg steht. Es scheint so als könne das Smashpot-Federsystem mit einstellbarem HBO den größeren Massentransfer eines EMTB besser handeln als das Öhlins System, welches sich nur auf die Stahlfeder und das Luftvolumen im Gabelholm (zur Progressionserzeugung) stützt. Auf steileren Abschnitten ein klarer Handlingvorteil.
Der Telum im Heck zeigt sich als absolut würdiges Pendant.
Im Einklang mit der Front erzeugt er ein kompetent-ausbalanciertes Fahrgefühl. Diese akkurate Abbildung des Terrains, dieses „sharpe Ridefeeling“, hab ich wirklich zu schätzen gelernt. In Sachen Balance sind sich die beiden EMTBs absolut ebenbürtig. Was aber das GLP3 eine Nuance besser schafft, ist Trail Chatter zu eliminieren. Trail Chatter sind für mich diese hochfrequenten Spikes die zum Beispiel lange, wenig grobe Steinfelder oder lange Wurzelteppiche produzieren. Hier kommt der Dämpfung des TTX22 absolut Nichts nach, hier ist er der absolute King. Der bügelt wie kein Zweiter.
Auf die Bergaufperformance der beiden EMTBs möchte ich nicht weiter eingehen. Sie sind sich zwar seitens Anti-Squat recht ähnlich, aber da der Telum einen speziellen Ölkreislauf für die Pedalschwelle hat der sich bei jedem Tune gleich anfühlt, die Pedalschwelle von Öhlins aber massiv vom verbauten Druckstufentune beeinflusst wird, wäre dieser Vergleich ein hinkender. Wenn man so will, würde der Telum hier besser sein, eben weil er diese Überschneidung überhaupt nicht aufweist.
Dieses Duell geht in seiner Gesamtheit nicht unentschieden aus, denn es gibt klare Positionierungen: Die Vorsprung-Kombo glänzt in technischem, steilen Terrain. Es ist sehr akkurat und vermittelt einen sehr genauen Eindruck des Terrains. Das Öhlins Pärchen lässts richtig laufen und verlangt eigentlich nur nach Steuerimpulsen und umlegen.
Fazit – WER SOLLTE SICH DEN VORSPRUNG TELUM ANS BIKE HOLEN?
DER NACHHALTIG DENKENDE SET-AND-FORGETLER
Du hast null Bock auf Einstellsessions und es wäre dir am liebsten dein Stoßdämpfer könnte deinen Ridingstyle telepathisch erahnen? Dann wirst du hier zufrieden gestellt sein. Die Investition wird dich an dein nächstes Bike begleiten, sobald du einen Rahmen wählst, der mit deinem Telum wieder kompatibel ist. Retunen (lassen) auf eine andere Kinematik ist ein Kinderspiel.
DER ANGEHENDE SUSPENSION-NERD
Du hast immenses Interesse daran deinen Horizont in Sachen Dämpfung und deren Effekte zu vertiefen? Es fehlt aber an Vaccum-Maschine, Spezialwerkzeug und spezieller Fingerfertigkeit? Then look no further! Das Telum Tuning Training schaffst du mit links und dann steht dir nichts mehr im Wege. Und ja: Du wirst (viele) Fehler machen, aber die werden reversierbar sein und du wirst (vor allem) viel lernen.
DER sympathisch-rebellische ENTHUSIAST aka “der Davidianer”
Der Telum ist nicht von der Stange, er ist der Underdog. Von einer eingeschworenen Truppe aus Suspension-Nerds in Kanada auf hauseigenen CNC-Maschinen aus dem Vollen gefräst wird der Telum wirklich zu DEINEM Telum, ganz individuell, so wie du. Egal welches Großserienprodukt vorher in deinem Bike steckte, der Telum ist mindestens on-par, vermutlich aber um Welten besser. Und: Du weißt wo deine Kohle landet!
DER SUSPENSIONDEALER
Profi ist hier tatsächlich als professionelles Anliegen gemeint. Fahrradläden die ihren Kunden ein passendes Fahrwerksupgrade nahe bringen wollen, öffnet der Telum nun Tür und Tor. Hat man die passende Länge direkt vor Ort kann man der geneigten Kundschaft den Telum perfekt getuned in wenigen Minuten ins Bike basteln – Tuning Hub sei Dank. Steht die Kaufentscheidung kommt der gespiegelte Telum wenige Tage später nigelnagelneu mit der Post. Und weiter geht’s mit dem nächsten Kunden…
DER SUSPENSIONTUNER (I.E PERSÖNLICHE IDEE VON MIR)
Der Telum könnte, rein theoretisch, auch als Testdämpfer für Custom-Tuning herhalten. Sobald der Kunde sich mit deiner Hilfe auf sein gewünschtes Dämpfungssetup eingeschossen hat, könntest du den Telum am Dyno messen und einen Shock bauen, der die Kurven am Dyno weitestgehend spiegelt. Ob in der Praxis umsetzbar? Fraglich. Aber wir werden es früher oder später erfahren…
Fazit: Ist der Telum ein disruptives Produkt?
Eine gewagte These – denn der Markt in dem er siedelt ist ein Mikrokosmos innerhalb eines ohnehin spezialisierten Segments. Ein Stahlfederdämpfer für den High-Performance-Gravity-Einsatz ist eben kein Massenprodukt. Und doch: Vorsprung tritt steinschleuderschwingend vor die etablierten Branchengiganten und … TRIFFT.
Jedoch trifft der Telum nicht den Kopf, der nur zu gerne von BWLern oder BMWlern (oder beides in Personalunion) als Ablagemöglichkeit für Coffee-ToGo-Becher besetzt wird. Der Telum ist perfider, denn er trifft direkt ins Herz, da wo die Innovationskraft sitzt, die Seele jeder Suspensionfirma.
Was dabei überrascht, ist nicht nur der Mut, sondern die technische Substanz. Der Telum leuchtet hell, nicht im Sinne schriller Marketingversprechen, sondern durch konsequent durchdachte Technik. Die Chassis-Konstruktion ist ein Paradebeispiel für technische Lösungen die der Haltbarkeit zuträglich sind, der klare Fokus auf Langlebigkeit ist allgegenwärtig.
Dämpfungstechnisch positioniert sich der Telum in der absoluten Oberliga. Der gesamte Aufbau wirkt wie ein mechanisches Ökosystem, jedes Bauteil ist so komplex wie nötig, nicht mehr, nicht weniger. Allein diese Parameter würden easy reichen, dass das Duell David vs. Goliath ein Unentschieden ergibt.
Doch Vorsprung geht halt weiter: Die vollständige Offenlegung aller Tuning-Möglichkeiten, inklusive detaillierter Dokumentation, ist in dieser Form unüblich – ja, fast schon radikal. Man überlässt nicht dem Produktmanager, dem Vertrieb, dem Händler oder dem Shim Cowboy das letzte Wort, sondern dem Nutzer selbst.
Und genau das könnte man als echten Bruch mit bisherigen Paradigmen verstehen. Keine verflachten Marketingfloskeln zu Dämpfungsfunktionen die selbst bei hauseigenen Ingenieuren unweigerlich Brechreiz auslösen. Kein Akronymbehaftetes Suspensionvooddoo, keine Blackbox, kein aufgesetzt-arrogantes Verkäuferlächeln. Nur kompromisslose Transparenz und volle Kontrolle.
Ist der Telum also disruptiv?
Vielleicht nicht in puncto Marktanteil – Aber im Denken, im Ansatz, in der Philosophie: Ganz sicher.
ACH JA, EINS NOCH ZUM SCHLUSS:
Der Preis für einen Telum beläuft sich auf 1.375 Euro inklusive Sprindex-Feder und benötigter Hardware.
Ihr wollt mehr TESTS?
Autor – CHRIS TROJER
Größe: 180 cm
Gewicht: 77 kg
Fahrstil: Runter und rauf kommt er immer noch überall, nach gut 35 Jahren auf dem MTB. Das, was an lebensbedrohlicher Endgeschwindigkeit fehlt, wird durch Analytik und/oder Jibbing ersetzt. Tipp: Fahr nie hinter ihm, denn die Lines sind … gewöhnungsbedürftig.
Motivation: Das Fahrrad an sich zählt zu den besten Erfindungen der Menschheit und Innovation ist seit jeher der stetige Begleiter dieses Vehikels. Mein Herz schlägt für die komplexen und technischen Themen, für Innovation und Fortschritt. Suspension ist mein Steckenpferd, Ehrlichkeit und Objektivität sind mein Anspruch.